Prof. Dr. Barbara Camilla Tucholski:
Jahresrückblick Zweitausendundfünf und Allsichtigkeiten

Vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan aus wird der erste Testsatellit für das europäische Navigationssystem Galileo ins All gestartet.
Die Zelle aus Orange entsteht in dem schwindelnden Blick durch die hochfliegenden Fensterbahnen irgendwo.
Die Klosterkapelle entwirft ihre vierzehn Speerkonsolen an den Enden der gebogenen und gestreckten Rippenlinien in die hochgeklappte Höhe als Ansicht eines gesternten Spinnenovals um ihre Mitte des einverleibten Rhombus.
Der Nasa gelingt es, von der Sonde „Deep Impact“ aus ein Kupfergeschoss auf den Kometen Temple 1 zu schießen. Der Aufschlag ist von der Erde aus zu sehen. Er soll Aufschluss über das Kometenmaterial geben. Zudem werden hervorragende Fotos vom Himmelskörper gemacht.
Die hochgeklappte Saalhaube entlässt die Punkte an ihren Linien in die Richtungen ihrer Schrägen, wovon der helle Raum hinter der Tür woanders nichts weiß.
Der Blick gleitet an den Stäben des Geländers  durch den Spalt zwischen den Treppen in die Tiefe und folgt den sich ansteilenden Stufen wieder zurück durch die Apsis aus Glasbausteinen in der Begleitung der handlaufkurvenden Drehung von Vorder- und Rückenansicht.
Wegen des Abschmelzens in den letzten Jahren wird am Gemsstock ob Andermatt der oberste Teil des Gurschengletschers mit einer Vliesdecke abgedeckt. Dadurch soll das Eis im Sommer stabilisiert werden.
Dem vorgestellten Allein- und Beisammensein des erinnerten Wohnwagens mit seinen beiden ihn flankierenden Containern und des nah entfernten Jahrmarktgehäuses gebietet die hohe querrechteckig gegliederte Hallenwand Warten in Mintglasgrün und leuchtend verschlossenem Gelb.
Das Strahlengerüst des in der Ferne aufgehenden Glashauses zieht über die Frühbeete und die Schattenformen der Schlingen hinweg und über das Vorne hinaus und wölbt sich zurück durch das rote Tor westlich.
Die Wand baucht sich vor, die Fliesen heben sich zum Licht, die Deckenlampe doppelt sich.
In London werden die letzten klassischen Doppeldeckerbusse ohne Tür aus dem Verkehr gezogen.
Der Flurschacht atmet in das Türkisspiegeloval über sich.
In Bern werden prähistorische Funde wie eine über 5000 Jahre alte Hirschlederhose präsentiert, die 2003 am Rande eines Eisfeldes im Wildhorn-Gebiet gefunden worden war. Das Antilopengeweih windet sich empor zur drehenden Quadratur des gewölbten Bodens unter sich und berührt dabei kaum den Kranz aus Rechteckbogenstrahlen.
Aus den gebündelten Spitzen der Palmenblätter streben die Stahlbögen in die Sphärenschwünge weit hinaus über den eng gefassten Kreis ihres Grundes.
Nach über siebenjähriger Reise trennt sich die europäische Sonde „Huygens“ von der Muttersonde „Cassini“ und landet nach einem Abstieg durch die Atmosphäre des Saturnmondes Titan auf der Oberfläche des Trabanten. „Huygens“ sendet sofort ihre Bilder und übermittelt danach eine Fülle von Daten zur Erde.
Das Glas in der Tür verhakt das helle Grün und eröffnet das Gelb der Linkskurventür.

Wo sind wir? Was geschieht hier? Und was war davor?
Was immer auch geschieht, es geschieht gleichzeitig an verschiedenen Orten gleicher Identität und geschieht im Bezug kosmischer Konstellationen des Interieurs von Kammern und Feldern.
Das Malereifotobild Ina Weißflogs verlässt die Gewissheit einer Orientierung durch das tradierte zentralperspektivische Sehen. Wir finden weder Eindeutigkeit der Stand- und Fluchtpunkte, weder Übereinstimmung der Horizonte von Bild und Betrachter, noch Messbarkeit der Distanzen, weder Proportionalität der Gegenstände untereinander, noch die gefestigten Koordinaten von Albertis Fensterausschnitt der Welt.
In welchem Sehen aber erscheinen diese Bilder? In welcher Weise unterminieren sie das perspektivische Diktat, da sie doch mit der computergenerierten Perspektive arbeiten? Zunächst scheint sich das Bild in den zwei Arten des Sehens, welches sich auf den Soforteindruck bezieht und alsdann auf die genauere Gegenstandsauffassung, ergründen zu lassen. Wir erkennen Orte, Räume, Gegenstände in demselben Augenblick, in dem sie sich als unerkannt entfernen. Vertrautheit und Fremdheit fluchten permanent ineinander und auseinander. Der Betrachter verliert und findet sich in einem Strudel der Bezüge von Flug, Halt und Fall zwischen Erdgebundenheit und Schwerelosigkeit, und nur die ungemein sichere Komposition sichert ihm und dem Bild das Gleichgewicht von Masse und Energie.
Der Betrachter erlebt eine Bilderwelt, die einerseits seinen Horizont zu übersteigen scheint, ihn andererseits über die Dinge erhebt: ein Atemanhalten in dem Schnittpunkt von Augenblick und Ewigkeit, von Nähe und Ferne; das Erspüren eines zeitlosen Lichtstrahls und Windstrichs; ein leises Vorübergehen, auch Trauer im Verlorensein des Nichtmehr und des Zuspät, aber auch Witz in der Inszenierung neuer Zusammenhänge und ihrer Virtualität.
Die Bilder kommen und gehen im Opeion des „di sotto in su“ wie im Palazzo Ducale von Mantua oder fliegen in der „vista a volo di uccello“, sie tauchen auf und unter in der linea orizzontale, vollziehen im Wechsel der Perspektiven ihren Reigen von Anamorphose und Metamorphose und erreichen sich in ihrem Angebot der Allsichtigkeit als vera icon.
Damit entzieht sich das Bild Weißflogs der alltäglichen und profanen Erwartung. Es bleibt sein eigener Dirigent und entwirft Raumleiber in emphatischer Spiritualität und immaterieller Dimensionen. „Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist noch Ursprung. Ein Spielen von reinen Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert“ (Rilke, Sonette an Orpheus).
Als Kind träumte mir, ich ginge bis ans Ende der Welt, und als ich dort ankam, stülpte sich der Weltenraum über mich zurück und ich folgte der Biegung in nun umgekehrtem Lauf, mit den Füßen nach oben an der Weltendecke zugleich hängend und gehend und mit dem Kopf nach unten in die Tiefe ragend. Ein Zug weit vergangener und immerwährender Kindheit weht mich an in den Bildern Ina Weißflogs.
„Im Anfang was war?“ fragt Paul Klee. „Es bewegten sich die Dinge sozusagen frei nur als Selbstverständlichkeit sich zu bewegen... kein hier, kein dort nur ein Überall“ (Paul Klee, Pädagogischer Nachlass 17a M/20/10).
In Dürers Guckkasten zeigt sich das Bild auf der zugleich opaken und transparenten Schnittfläche der Sehstrahlen. Die Vermählung der Perspektiven in den Kammern und Feldern Weißflogs erzeugt nicht mehr Bilder der vermeintlichen Wirklichkeit, sondern der gemeinten Möglichkeit. Dies geschieht in einem Sehen als innerseelischer Akt, wie Paul Klee dieses Schauen in der Folge C. D. Friedrichs nannte.
„Und sind wir nicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster.“ (Rilke, Duineser Elegien)

Alle Ähnlichkeiten sind natürlich rein zufällig.
„Und morgen sieht alles wie geträumt aus“, sagt die Kellnerin in dem Film „Sehnsucht“.

 

Literatur:
Jahresrückblick 2005, in NZZ, 31.12.2005/1.1.2006, Nr. 306.
Frank Büttner, Die Macht des Bildes über den Betrachter, in: Wulf Osterreicher, Autorität der Form, S. 17-35, Münster, 2003.