Dr. Mayarí Granados:
212 Tage über Normalnull

Der Blick fällt von oben in ein Wohnzimmer. Was zunächst als Vogelperspektive erscheint, verwirrt beim zweiten Blick: in der Mitte der Boden des Zimmers mit Möbeln, die sich nach außen zu strecken scheinen, die Wände weiten sich, die Decke erscheint  an den Rändern des Bildes, Lampen ragen von außerhalb des Bildfeldes in den Raum hinein. Der Betrachter ist irritiert und zugleich fasziniert, seine Sehgewohnheit ist außer Kraft gesetzt.
 
Aus bis zu dreihundert digitalen Einzelaufnahmen montiert Weißflog Räume und Orte zu frei konstruierten Perspektiven, meist extremen Weitwinkelansichten. Scheinbar Bekanntes setzt sie zusammen zu einer neuen Raumerfahrung. So entsteht ein für den Betrachter vollkommen neuer Blickwinkel, der unser sonst begrenztes Sichtfeld zu einer 360°-Perspektive erweitert.
Die dem Betrachter vertraute Zentralperspektive ist aufgehoben und somit auch sein sicherer Standpunkt, er ist gefordert, diesen zu überdenken. So erreicht Weißflog eine Gleichzeitigkeit, die dem menschlichen Blick ansonsten verwehrt ist. Die neuen Blickwinkel ermöglichen dem Betrachter das Erkennen von Strukturen, die im Normalfall nicht sichtbar werden. Auch dies ist ein wesentlicher Punkt der Arbeiten Weißflogs; es geht ihr darum, Symmetrien oder Asymmetrien und Ordnungsprinzipien eines Raumes sichtbar zu machen.

Schon zu Beginn ihres Arbeitens mit dem Medium Fotografie empfand Weißflog die Enge des Ausschnitthaften als unbefriedigend und strebte nach einem größeren Bildausschnitt. Zunächst erarbeitete sie mit Panoramaansichten das Blickfeld, empfand dieses immer noch als zu klein, weshalb sie nach Erweiterungen suchte.
Es geht Ina Weißflog jedoch um mehr als um ein erweitertes Blickfeld. Sie möchte die Atmosphäre eines Raumes einfangen, oder aber ihre eigene Idee einer möglichen Atmosphäre kreieren. Im Medium Fotografie entsteht eine Diskrepanz zwischen gesehener Wirklichkeit und Abbild auf dem Foto, welche es erschwert, eine Atmosphäre zu reproduzieren. Weißflog macht sich eben diese Diskrepanz in ihren Arbeiten zunutze, indem sie bewusst mit ihr arbeitet, sie übertreibt. Die Begrenztheit des Fotos ist nicht in der Lage, das Raumgefühl zu repräsentieren, das sich einstellt, wenn man von einem Standpunkt aus um sich blickt. In der Suche nach dem Raumgefühl geht die Künstlerin neue Wege, setzt Gegenakzente, indem sie dem Raum durch veränderte Einrichtungsdetails eine neue Atmosphäre gibt.

Dirk Luckow betont in seinem Text zu Ina Weißflogs Arbeiten den Subjektivismus ihrer Kunst, der wichtig für die Einordnung ihrer Arbeiten innerhalb der zeitgenössischen Fotografie ist. Die Arbeiten Weißflogs sind emotional und psychologisch aufgeladen und grenzen sich so ab von den systematisch dokumentierenden Fotografien der Schule Bernd und Hilla Bechers (1).  Nach eigener Aussage arbeitet die Künstlerin ohne bewusste Vorbilder. Dennoch sind für Weißflog Künstler wie Bernd und Hilla Becher, Andreas Gursky und Candida Höfer von Bedeutung, vor allem aber, indem sie versucht, sich von deren Arbeits- und Sichtweise abzugrenzen und eine eigene Bildauffassung und Ästhetik zu schaffen. Dies erreicht sie vornehmlich, indem sie „die sich ihr darbietende Wirklichkeit auf Möglichkeiten [untersucht], die persönliche Erfahrung und das unpersönliche, mechanische Prinzip der Fotografie miteinander zu verbinden.“ (2)

Eine wichtige kunsthistorische Inspirationsquelle für Weißflog ist die Raumauffassung in mittelalterlichen Gemälden, die durch Goldgrund hervorgerufene Entrücktheit eines Raumes, der noch nicht von der Zentralperspektive geprägt ist. Vor allem aber sind literarische Vorbilder bedeutsam für die Künstlerin, zuvorderst Beschreibungen von Atmosphären. Ihr besonderes Augenmerk richtet sie darauf, welche Elemente die Autoren zusammenführen, auf welche Weise Räume oder Charaktere beschrieben werden, „Seelenarchitekturen“, wie die Künstlerin es nennt, entworfen werden, zum Beispiel bei  Haruki Murakami, Wilhelm Genazino oder in der Literatur der Romantik. Interessant für Weißflog, insbesondere in Bezug auf ihren Aufenthalt in Schwalenberg, ist die Atmosphäre in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“. Die dort beschriebene Entrücktheit, Realitätsferne und Hypochondrie kann sich nur aufgrund der besonderen geografischen Lage – weit über dem Meeresspiegel - entwickeln. Das so entstandene, in sich abgeschlossene, durchaus dekadente Gesellschaftssystem hat für Ina Weißflog viele Parallelen zu ihrer eigenen Arbeit, die oft von der Isolation des zur Subjektivität „verdammten“ Individuums handelt.

Sie selbst schrieb über ihre Arbeiten: „Wenngleich kaum ein Mensch auf meinen Bildern zu sehen ist, geht es doch im Wesentlichen um ihn: Wie lebt er? Was für Räume baut er um sich herum? Wie prägt der Mensch den Raum und wie prägt der Raum den Menschen, der in ihm agiert, denkt, fühlt, lebt, kommuniziert? Wie hängen Identität und Umgebung zusammen?
Durch die Räume, und die Dinge, mit denen sich Menschen umgeben, kommunizieren sie mehr oder weniger bewusst etwas über ihre Hoffnungen, Sehnsüchte, Zwänge, ihr Leben. Über ihren Hang zu Chaos oder Ordnung, ihre Zugehörigkeit, ihr Fremdsein, über die sozialen Systeme, in die sie eingebunden sind oder ihre Einsamkeit.“ (3)

Diese Einsamkeit und Isolation manifestiert sich in der klaustrophobischen Enge, die viele Räume in Weißflogs Arbeiten ausstrahlen, manche der Zimmer erinnern gar an Gefängniszellen. Im einigen ihrer Bildserien schafft Ina Weißflog kleine, konzentrierte Raumsituationen mit Möbeln, die so gerade in die Räume passen. Der Mensch ist in ihnen gefangen, in seinem Leben, dem Inneren. Ein Fluchtweg, eine Horizonterweiterung scheint ausgeschlossen, da Ausgänge oder Ausblicke auf die Außenwelt genommen werden – die Künstlerin entfernt Türen und Fenster, lässt Betten oder Stühle aufeinander zurücken.
 
Trotzdem erweitert sie den Blick, die Raumenge verliert sich im oberen Teil, der durch die Perspektive offen erscheint. Die Interpretation, dass eine Erweiterung der Perspektive nur nach oben, ins Geistige, möglich ist, liegt nahe. Der Betrachter kann sich aber auch die Frage stellen, wie Menschen, die in einem derart „hermetisch abgeschlossenen, symmetrischen Kubus“, wie die Künstlerin über eine ihrer „Schlafkammern“ schreibt, kommunizieren können. Sie sind gemeinsam gefangen, dennoch durch die Raumkonstellation voneinander getrennt.

Das Projekt der Wohnzimmer und andere Bildserien, in denen Zimmer im Mittelpunkt stehen,  beschäftigen sich mit der Frage, was eine Raumeinrichtung über den Menschen aussagt. Dabei geht es der Künstlerin  meist um vage, widersprüchliche, komplizierte Gemütszustände, die dem Betrachter suggeriert werden. Die Arbeiten rücken ab von der Ausgangsituation, die die Fotografin vorfand, werden zu psychologisch aufgeladenen Aussagen, die aber eine fast stilllebenhafte Ruhe ausstrahlen. Das erzählerische Moment ist eingefroren, aber dennoch vorhanden. Die Atmosphäre ist nur subjektiv erfahrbar.

 

1 Dirk Luckow, „schön weit weg von hier“. Zu Ina Weißflogs Kunst, mit der Fotografie die Welt zu erkunden, in: Ina Weißflog, Hrsg. Kulturstiftung Stormarn der Sparkasse Holstein, Bad Oldesloe 2006, S. 87.
2 Dirk Luckow, ebenda, S. 87.
3 Ina Weißflog, Überlegungen zu Mensch und Kommunikation, Manuskript, 2009